Samstag, 20. November 2010

Mumia: Neuer Anwalt, neue Runde

Dave Lindorff

Am 9. November 2010 fand eine weitere Gerichtsanhörung im Fall des
Mordverfahrens gegen den aus Philadelphia stammenden Journalisten Mumia
Abu-Jamal statt, das sich nun schon fast dreißig Jahre hinzieht.
Abu-Jamal hat die letzten 27 Jahre in einer winzigen Zelle im Todestrakt
Pennsylvanias verbracht, von wo aus er gegen sein Todesurteil und eine
konzertierte Kampagne der US-Polizeigewerkschaft, des Fraternal Order of
Police(FOP), kämpft, der seine Hinrichtung fordert. Bei der Anhörung
befasste sich das dreiköpfige Richtergremium eines
Bundesberufungsgerichts auf Anordnung des US Supreme Court erneut mit
seiner Entscheidung vom 27. März 2008, das Todesurteil gegen Abu-Jamal
aufzuheben.

Die drei Richter -- der von Ronald Reagan ernannte Anthony Sirica, der
von George Bush Senior ernannte Robert Cowen und der von Bill Clinton
ernannte Thomas Ambro -- hatten vor zweieinhalb Jahren den Beschluss
eines Richters an einem unmittelbar untergeordneten Gericht,
Bundesrichter William Yohn Jr., bestätigt, nach dem der Geschworenenjury
in Abu-Jamals Verfahren von 1982 für die Beurteilung des Strafmaßes nur
ein höchst ungenaues und verwirrendes Formular und fehlerhafte
Anweisungen des Richters zur Verfügung standen.

Nach Auffassung des Gerichts hatten diese verwirrenden Anleitungen die
Geschworenen möglicherweise zu der irrigen Annahme verleitet, zur
Berücksichtigung eines gegen ein Todesurteil sprechenden mildernden
Umstandes müssten alle 12 Geschworenen sich über diesen Umstand einig
sein. Tatsächlich müssen nur /strafverschärfende/, für ein Todesurteil
sprechende Umstände von allen Mitgliedern der Jury einstimmig für gültig
erachtet werden.

Das Urteil von 2008 wurde von vielen als bedeutender Sieg für Abu-Jamal
und seinen Anwalt Robert R. Bryan angesehen, da es bedeutete, dass er
entweder nicht hingerichtet und stattdessen eine lebenslange Haftstrafe
ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung verbüßen würde, oder dass der
der Bezirksstaatsanwalt Philadelphias ein neues Verfahren über das
Strafmaß beantragen müsste, bei dem eine neue Jury sich Argumente für
oder gegen die Verhängung eines neuen Todesurteils anhören würde.

Im Januar 2010 fügte der US Supreme Court dem Fall jedoch mit seinem
Urteil zum Mordfall Frank Spisaks in Ohio noch eine weitere Wendung
hinzu. Spisak ist ein Neonazi, der für den Mord an willkürlich
ausgewählten Juden und Schwarzen zum Tod verurteilt wurde und bei seinem
Verfahren ein Hitlerbärtchen getragen hatte, und der Supreme Court
befand, dass die Aufhebung seines Todesurteils durch ein niedrigeres
Gericht ein Irrtum war. In Spisaks Fall war es ebenso wie in dem
Abu-Jamals um die potentiell irreführenden Formulierungen auf dem
Juryformular und in den Anweisungen des Richters an die Jury gegangen.

Der US Supreme Court, der zum Zeitpunkt seiner Spisak-Entscheidung auch
über eine Berufung der Staatsanwaltschaft Philadelphias gegen die
Entscheidung des Dritten Bundesberufungsgerichts in Abu-Jamals Fall vom
März 2008 zu befinden hatte, sandte letzteren Fall daraufhin zurück an
das Berufungsgericht und wies die Richter Sirica, Cowen und Ambro an,
ihre Entscheidung im Fall Abu-Jamal im Lichte der
Supreme-Court-Entscheidung im Spisak-Fall noch einmal zu überprüfen.

Bei der eine Stunde währenden Anhörung am 9. November 2010 versuchte der
Stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Hugh Burns, dem Gericht
klarzumachen, dass die Juryanweisungen und das Juryformular in
Abu-Jamals Fall "beinah identisch" mit denen im Fall Spisaks seien.
Demgegenüber führte Abu-Jamals Anwältin Judith Ritter --
Jura-Professorin an der Widener University -- ins Feld, die Probleme mit
den richterlichen Anweisungen und dem Juryformular in Abu-Jamals Fall
seien "grundlegend verschieden" von denen im Fall Spisaks.

Nach ihren anfänglichen Bemerkungen und in ihren Fragen zu urteilen
schienen die drei Richter der Auffassung der Verteidigung zuzuneigen.

So fragte Richter Cowen während des Vortrags von Staatsanwalt Burns:
"Unterscheidet sich das Juryformular bei Spisak nicht sehr wesentlich
von dem Formular in unserem Fall? Ich habe sechs Unterschiede gefunden."
Und zu einem späteren Zeitpunkt während der Anhörung sagte er: "Ist es
nicht so, dass diese Fälle nicht nur graduell, sondern auch qualitativ
verschieden sind?"

Richter Ambro erinnerte daran, dass Richter Albert Sabo den Geschworenen
im Abu-Jamal-Fall gesagt hatte: "Und erinnern Sie sich daran, dass Ihr
Urteil einstimmig sein muss." Und er kommentierte: "Das ist eine
Anweisung, die für alle hier anstehenden Fragen von Bedeutung ist."
Sowohl Ambro als auch Cowen erklärten, der Spisak-Jury sei nie gesagt
worden, ihre Entscheidung [in Sachen mildernder Umstände] müsse
einstimmig sein, während das Wort "einstimmig" im Fall Abu-Jamals sowohl
in den Anweisungen des Richters als auch im Juryformular zu dieser Frage
wiederholt verwendet worden sei.

Burns versuchte, dem entgegenzuhalten, im Spisak-Fall sei zwar das Wort
"einstimmig" nicht verwendet worden, die Jury sei aber hier dennoch als
untrennbare Einheit angesprochen worden, und dies habe zumindest darauf
hingedeutet, dass zur Findung eines mildernden Umstandes für den
Angeklagten Einstimmigkeit erforderlich war.

Abu-Jamals Verteidigerin Ritter konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf
die Unterschiede zwischen den Fällen Spisaks und Abu-Jamals und sagte:
"Bei Spisak finden wir keine Anweisungen an die Jury zur Frage der
mildernden Umstände, die die Jury irregeleitet haben könnten. Im Fall
Abu-Jamals sieht das anders aus. Sehen Sie sich Punkt 2 seines
Juryformulars an. Es beginnt mit den Worten ,Wir, die Geschworenen,
befinden einstimmig...'"

Ritter war bei dieser Anhörung die einzige Sprecherin für Abu-Jamal,
nachdem Abu-Jamals Hauptanwalt nur wenige Tage zuvor überraschend sein
Mandat niedergelegt hatte. Berichten zufolge hatte Abu-Jamal Bryan in
der Woche vor der Anhörung gebeten, dieser nur beizuwohnen, aber nicht
selbst das Wort an das Gericht zu richten und diese Aufgabe Ritter zu
überlassen. Bryan sagt, da Ritter sich in der Auseinandersetzung um
Abu-Jamals Verurteilung mit dem von ihr vertretenen Punkt -- der Frage
der Todesstrafe -- 2008 durchgesetzt habe, sei Abu-Jamal offenbar zu der
Auffassung gekommen, sie sei eine bessere Wahl als Bryan selbst. Dessen
Auftritt bei der Anhörung 2007 war nach Ansicht vieler Unterstützer
Abu-Jamals etwas konfus und nicht optimal wirksam. Bryan sagt, sein
Vorschlag, nach dem er selbst am 9. November die einleitenden
Bemerkungen machen und dann zum Schluss auf Fragen der Richter antworten
würde, sei von Ritter und Abu-Jamal abgelehnt worden, und daher habe er
das Gericht in einem Antrag vom 5. November gebeten, von dem Fall
entbunden zu werden. Die Richter bewilligten diesen Antrag noch am
selben Tag, dem Freitag vor der Anhörung.

Abu-Jamal entlässt nun schon zum zweiten Mal im unmittelbaren Vorfeld
einer entscheidenden Anhörung seinen Hauptanwalt. 2001, just zu der
Zeit, als Bundesrichter William Yohn Jr. mit der Verteidigung über das
Datum für eine Beweisanhörung zu Abu-Jamals Habeas-Corpus-Antrag auf
Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Haft diskutierte, entließ
Abu-Jamal seinen Hauptanwalt Leonard Weinglass und seinen Nebenanwalt
Dan Williams, da die bevorstehende Veröffentlichung eines von Williams
verfassten Buch über den Fall seinen Zorn erregt hatte. Abu-Jamal
ersetzte die beiden durch zwei Anwälte, Eliot Grossman und Marlene
Kamish, die wenig bis gar keine Erfahrung mit Todesstrafenfällen hatten,
und entließ sie dann wiederum [2003] zugunsten von Bryan.

Während es nicht leicht war, die Position des Vorsitzenden Richters
Sirica auszumachen, schienen zumindest die Richter Cowen und Ambro von
den Argumenten von Staatsanwalt Burns nicht überzeugt zu sein: "Sie
haben Frau Ritters Argumente nicht widerlegt", meinte Cowen. "Sie hat
auf einige Unterschiede zwischen den Formularen (bei Abu-Jamal und
Spisak) hingewiesen, die wichtig sind."

Und Richter Ambro fügte hinzu: "So kam zum Beispiel das Wort
,einstimmig' im Fall Spisak nicht zur Anwendung." Und Richter Cowen
ergänzte: "In unserem Fall wurde das Wort ,einstimmig' wieder und wieder
verwendet, und das in nächster Nähe zu den Punkten, wo es um mildernde
Umstände geht."

Natürlich wird die Staatsanwaltschaft Philadelphias auch dann, wenn das
dreiköpfige Richtergremium seine Entscheidung von 2008 bestätigen
sollte, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut den US
Supreme Court anrufen, wo dann die selben fünf Richter, die erst gegen
Spisak entschieden und dann den Fall Abu-Jamals zurück an das 3.
Berufungsgerichts zurückverwiesen haben, durchaus auch gegen dieses
entscheiden könnten. In diesem Fall träte das Todesurteil gegen
Abu-Jamal endgültig in Kraft.

Wenn der Supreme Court einer Entscheidung des Dritten Berufungsgerichts
zugunsten Abu-Jamals zustimmen oder schlicht beschließen sollte, nicht
erneut über den Fall zu beraten und die Entscheidung des unteren
Gerichts so stehen zu lassen, müsste die Anklage darüber entscheiden, ob
sie sich mit einem "Lebenslänglich" für Abu-Jamal zufriedengibt oder ein
neues Verfahren über das Strafmaß beantragt, das dann wieder vor einem
Gericht auf Staatsebene stattfinden würde.

Tatsächlich /hofft/ die Verteidigung auf einen erneuten Prozess über das
Strafmaß, da dies Abu-Jamal zumindest die Möglichkeit bieten würde,
neues Beweismaterial in Bezug auf die Frage einzuführen, wie genau der
Polizeibeamte Faulkner starb. So hat zum Beispiel die Anklage immer
nachdrücklich auf die Aussage zweier Zeugen, der Prostituierten Cynthia
White und es Taxifahrers Robert Chobert, verwiesen, die die Erschießung
Faulkners beide als "Hinrichtung" beschrieben, bei der Abu-Jamal direkt
über dem bereits am Boden liegenden Polizisten gestanden und wiederholt
aus nächster Nähe auf ihn geschossen habe. Das Problem mit dieser
Tatversion ist, dass Faulkner nur von einer einzigen Kugel -- der, die
mitten in seine Stirn eindrang -- getroffen wurde, andererseits aber auf
den Fotos vom Tatort keinerlei Kugelspuren auf dem Bürgersteig, auf dem
Faulkner sterbend aufgefunden wurde, zu sehen sind, und dass auch in den
Polizeiberichten über den Tatort nirgends von solchen die Rede ist.

Kürzlich demonstrierte ein Versuch mit einer dem damaligen Revolver
Abu-Jamals ähnlichen Schusswaffe, bei dem ähnliche, metallummantelte
Hochgeschwindigkeitsgeschosse auf eine dem damaligen Bürgersteig
vergleichbare Zementplatte abgefeuert wurden, dass solche Schussspuren
klar erkennbar gewesen sein müssten. Während die Frage der Schuld oder
Unschuld in einem neuen Prozess der lediglich der Feststellung des
Strafmaßes dient, nicht direkt gestellt werden könnte, würde die
Verteidigung hier sicherlich Beweismaterial dafür vorlegen, dass das
"Hinrichtungsszenario", das die Anklage der Jury im ursprünglichen
Prozess präsentiert hatte, gar nicht stimmen kann, und daher würden
bestimmt auch Zeugen geladen, die dieser Version widersprechen. Und
damit ergäbe sich für die Anklage das Risiko, dass solches
Beweismaterial -- oder der Widerruf von Zeugenaussagen -- das Tor zu
einem neuen Angriff der Verteidigung auf den Schuldspruch gegen
Abu-Jamal aufstoßen könnte.

Doch selbst wenn das 3. Bundesberufungsgericht oder der US Supreme Court
gegen Abu-Jamal entscheiden und damit die Rechtskraft des ursprünglichen
Todesurteils gegen ihn bestätigt würden, wäre das wohl immer noch nicht
das Ende dieses langwierigen Falls.

Als Richter William Yohn Jr. am 18. Dezember 2001 das Todesurteil gegen
Abu-Jamal aufhob, bemerkte er in seiner [272 Seiten langen]
Entscheidung, er behandle vier weitere Behauptungen der Verteidigung
über verfassungswidrige Fehler bei Abu-Jamals Verurteilung zum Tod als
"hinfällig", da eine Befassung mit ihnen aufgrund des nunmehr ohnehin
aufgehobenen Todesurteil nicht mehr geboten sei. Dazu sagt das Mitglied
des Verteidigerteams von Abu-Jamal Christina Swarns: "Wir können jetzt
mit Sicherheit verlangen, dass diese Punkte nun in Betracht gezogen werden."

Das würde bedeuten, dass Abu-Jamal, selbst wenn die Todesstrafe jetzt
bestätigt wird, erneut an Richter Yohn herantreten kann, von dem dann
einige wichtige und zwingende Einwände gegen die ursprüngliche
Prozessführung im Fall Abu-Jamals erörtert werden müssten.
Zusammengefasst geht es dabei um folgendes:

·Die Verwendung einer Aussage, die Abu-Jamals im Alter von 15 Jahren
machte, durch Staatsanwalt Joseph McGill, in der der Vorsitzende der KP
Chinas Mao Zedong mit den Worten zitiert wurde: "Politische Macht kommt
aus den Gewehrläufen." Der Staatsanwalt benutzte sie, um die Jury zur
Verhängung der Todesstrafe zu bewegen.

·Die Eile, mit der der Fall betrieben wurde, die fehlende Qualifikation
Abu-Jamals Rechtsbeistand Anthony Jackson und die Tatsache, dass Richter
Sabo die Anhörung zur Feststellung des Strafmaßes auf den Tag nach dem
Schuldspruch der Jury ansetzen konnte, ohne dass Jackson auch nur eine
Pause beantragte, um sich angemessen vorbereiten zu können. Am Ende lud
Jackson bei dieser Anhörung keinen einzigen Leumundszeugen vor, um
mildernde Umstände für Abu-Jamal geltend zu machen.

·Die rechtswidrige -- vom Richter gebilligte -- "Belehrung" der
Geschworenen durch Staatsanwalt McGill, sie liefen nicht die Gefahr,
"irgendjemand zu töten", da der Angeklagte noch "eine Berufung nach der
andern haben" werde. Der US Supreme Court und das 3. Berufungsgericht
haben ebenso wie das Oberste Gericht Pennsylvanias wiederholt wegen
ähnlicher Äußerungen der Staatsanwaltschaft gegenüber der Jury
Todesurteile aufgehoben, da sie das Bewusstsein der Geschworenen über
die moralischen Konsequenzen ihres Urteils beseitigen oder schwächen können.

·Die Beschwerde der Verteidigung, die Anklage habe ihr die Tatsache
vorenthalten, dass örtliche Polizeibehörden und das FBI ihre jahrelange
Überwachung Abu-Jamals eingestellt hatten, nachdem sie, wie es das FBI
in einem Memo zur Beendigung der Überwachung formulierte, zu folgendem
Fazit gekommen waren: "Im März 1973 wurde das Überwachungsobjekt vom
ADEX [Sicherheitsindex für gefährliche Elemente] gestrichen und es wurde
keine weitere Untersuchung seiner Aktivitäten mehr betrieben. Dennoch
haben gewisse Quellen immer wieder über COOK (Familienname Abu-Jamals)
berichtet, und obwohl er nie eine Neigung zur Gewalt an den Tag gelegt
hat, pflegt er bis heute Umgang mit Individuen und Organisationen, die
sich mit extremistischen Aktivitäten beschäftigen."

Laut dem Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt Philadelphias Burns wird
"sich dieser Fall noch etliche Jahre hinziehen".

*Übersetzung:*Michael Schiffmann, 20. November 2010
-> Original in Englisch: http://www.thiscantbehappening.net/print/300